Über den Autor:
Detlef Beyer


Barrierefreiheit und der rechtliche Rahmen
Ich bin kein Rechtsanwalt und kann daher auch keine Rechtsberatung geben. Der folgende Text stammt aus der Feder eines juristischen Laien und gibt ausschließlich meine private Meinung wider. Ich hatte schon sehr viele Gespräche mit Rechtsanwälten zum Thema Barrierefreiheit und, in letzter Zeit, zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG). Meine Einschätzungen beruhen darauf, dass ich versuche, die Intention hinter dem Gesetz zu verstehen. Eine Rechtsberatung stellt dieser Text in keiner Weise dar.
„Zweck dieses Gesetzes ist es, im Interesse der Verbraucher und Nutzer die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen … zu gewährleisten. Dadurch wird für Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gestärkt …“ (BFSG)
Ganz oder gar nicht. Wie ist der Stand bei der Barrierefreiheit?
Teilweise ist das BFSG nicht einfach zu interpretieren. Einige Dinge liegen klar vor uns, andere sind durchaus strittig. Bei den Streitfällen dürfte die Einschätzung, ob das eigene Unternehmen überhaupt betroffen ist, ganz weit vorne liegen. Das BFSG betrifft eindeutig nur die Beziehung zwischen einem Unternehmen und den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Neben explizit genannten Branchen wie Bankdienstleistungen für Verbraucherinnen und Verbraucher oder Personenbeförderungsdiensten, sind hier ganz besonders die „Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr“ zu nennen – ein sehr weit zu fassender Bereich. Dabei handelt es sich um „Dienstleistungen der Telemedien“ (Telemedien, ein Begriff aus der Zeit vor 1990, sind vor allem Internetangebote, Mails oder Apps), die elektronisch und auf individuelle Anfrage eines Verbrauchers im Hinblick auf den Abschluss eines Verbrauchervertrags (§ 310 Abs. 3 BGB) erbracht werden. Schon das Abo eines Newsletters (kostenfrei) stellt den Abschluss eines Verbrauchervertrags dar. Der Kauf eines Produktes oder die Vereinbarung für einen Termin (an dem eine Dienstleistung erbracht wird) gehören beide ebenfalls in diese Gruppe. Damit sind sehr, sehr viele Angebote betroffen.
Wenn nun ein solcher Verbrauchervertrag über die Website geschlossen wird, dann gilt laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales öffnet sich in einem neuen Tab (BMAS): „Die gesamte Webseite inklusive Check-out ist nach den Vorschriften des BFSG barrierefrei zu gestalten.“
Mit dem Verstreichen des 28.6.2025, dem Tag des Inkrafttretens des BFSG, lassen sich grob gesagt vier unterschiedliche Strategien bei den Unternehmen ausmachen:
- Es wurde versucht die digitalen Angebote nach den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1 Level A und AA barrierefrei aufzubauen. Die Erklärung zur Barrierefreiheit beschreibt dieses Bestreben.
- Ein Unternehmen hat das Thema komplett verschlafen oder fühlt sich vom BFSG nicht betroffen.
- Es wurde nichts oder kaum etwas für die Barrierefreiheit unternommen. Die Strategie dahinter ist: warten wir einmal ab, was denn tatsächlich von Behördenseite unternommen wird.
- Es wurden sehr unzureichende Maßnahmen ergriffen und große Teile des Angebots sind weiterhin nicht barrierefrei. Entweder wird dann in der Erklärung zur Barrierefreiheit behauptet: Alles ist prima oder das Unternehmen steht auf dem Standpunkt: Wenn ich die Fehler erwähne, muss ich sie nicht mehr beheben.
Wenn wir uns die Erklärung zur Barrierefreiheit von Unternehmen ansehen und vergleichen diesen Text mit dem tatsächlichen Umsetzungsstand der digitalen Angebote, dann können sich hier große Differenzen zeigen. Ein Unternehmen sollte in der Erklärung zur Barrierefreiheit auf keinen Fall eine vollständige Konformität behaupten, wenn diese nicht in allen Details gegeben ist. Bei der Erklärung zur Barrierefreiheit handelt es sich um eine rechtlich relevante Selbstauskunft, die im Fall von Marktüberwachungsmaßnahmen oder verbraucherschutzrechtlicher Inanspruchnahme belastbare Wirkung entfalten kann. Irreführende oder unzutreffende Angaben könnten zudem unlautere geschäftliche Handlungen (§ 5 UWG) oder Ordnungswidrigkeiten (§ 37 BFSG) begründen. Die rechtlichen Risiken sind mithin erheblich. Außerdem würde ich ein Transparenzgebot dahin gehend interpretieren, dass bekannte Schwachstellen benannt werden sollten. Nicht unbedingt im Detail, aber als konkreter greifbarer Hinweis. Wenn ich also auf einer Website öffnet sich in einem neuen Tab diesen Passus finde:
„Unternehmen XYZ ist auf vielfältige Weise bestrebt, ihre Website barrierefrei zugänglich zu machen und für den Einsatz assistiver Technologien vorzubereiten. Hierzu werden in der Entwicklung der Webseiten die technischen Standards der Europäischen Norm EN 301 549 und die darin referenzierten Erfolgskriterien der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1 in den Konformitätsniveaus A und AA erfüllt.“
Dann gehe ich davon aus, dass die Website vollständig zu WCAG 2.1, Level A und AA konform aufgebaut wurde. Das ist in diesem Fall aber ganz und gar nicht gelungen. Ein ähnlicher Text ist dieser öffnet sich in einem neuen Tab:
„Wir folgen den vom World Wide Web Consortium (W3C) in seinen Richtlinien für barrierefreie Webinhalte empfohlenen Anforderungen an Online-Benutzerfreundlichkeit und Design in der jeweils aktuellen Version.“
Hier fällt schon auf, dass nur das W3C, aber keine konkrete Norm genannt wird. Es gibt einige Varianten von Richtlinien des W3C und das Unternehmen will sicher nicht allen folgen. Wenn dann noch diese beiden Statements folgen öffnet sich in einem neuen Tab, werde ich skeptisch:
„Sie können unsere Webseite größtenteils über die Tastatur navigieren.“ oder „Sie können unsere Webseite größtenteils über einen Screenreader anhören.“
Was bitte bedeutet hier denn „größtenteils“? Hier wird keine Transparenz geschaffen. Das kommt erst später im Text: „Unser Webangebot entspricht größtenteils den europäischen Barrierefreiheitsstandards“ und am Ende dieser Aussage wird, durch eine nicht verlinkte Fußnote, auf die EN 301 549 verwiesen. Warum dann das Wischiwaschi zusätzlich? Praktisch ist die Website auch hier relativ weit von einer vollständig konformen Umsetzung entfernt. Es bleibt dabei: Das ist keine transparente Kommunikation und widerspricht in meinen Augen dem Geist des BFSG.
Wir würden ja gerne – Barrierefreiheit ist uns so wichtig…
Ebenfalls häufig anzutreffen sind Erklärungen, die große Bereiche einer digitalen Lösung als nicht vom BFSG betroffen ausschließen. Mal ganz abgesehen davon, dass ich es als nicht vertretbar ansehe, wenn ein größerer Anbieter einfach mal große Benutzergruppen von Teilen seines Angebots ausschließt öffnet sich in einem neuen Tab, so scheint mir das dem Gesetz nicht gerecht zu werden.
„Die angebotenen Inhalte, also etwa der Content der Webseite XYZ und der Apps oder die redaktionellen Newsletter fallen allerdings nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes.“
Oder dieser Text öffnet sich in einem neuen Tab:
„XYZ bietet auf seiner Website verschiedene Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr (nachfolgend „Dienste“) an, die es Kunden ermöglichen, Produkte und Dienstleistungen online zu erwerben. Die verfügbaren Dienste werden im Folgenden beschrieben. Webumfänge, die nicht Bestandteil der beschriebenen Dienste sind, sind ggf. (noch) nicht vollständig barrierefrei.“
Fast alle Unternehmen leiten die Erklärung zur Barrierefreiheit damit ein, dass Barrierefreiheit eine Herzensangelegenheit ist. Dabei wurden praktisch alle Maßnahmen erst im Hinblick auf die Verpflichtung durch das BFSG angegangen. Viele Websites kann man im Hinblick auf die Barrierefreiheit kurz und knapp mit „knapp vorbei ist auch daneben“ bewerten. Daher glaube ich Aussagen wie dieser hier öffnet sich in einem neuen Tab im ersten Moment nicht:
„Die Vision von XYZ ist es, das kundenorientierteste Unternehmen der Welt zu werden. Das bedeutet, dass unsere Geräte und Services für alle zugänglich sind, insbesondere für Menschen mit Behinderungen.“
Das BFSG zielt aus meiner Sicht mit „Dienstleistung im elektronischen Geschäftsverkehr“ auf den ersten Blick nur auf Teile von Websites oder Apps. Bei genauerem Hinsehen, halte ich fast immer die Barrierefreiheit der gesamten Website oder App nach dem BFSG für erforderlich. Denn die verbraucherin oder der Verbraucher muss barrierefrei zu dem Teil der Website gelangen können, auf welchem die eigentliche Dienstleistung angeboten wird. Andernfalls liefe der Sinn und Zweck des Gesetzes völlig ins Leere. Warum sollte ein Unternehmen zum Beispiel ein Blog betreiben, wenn nicht mit dem Anspruch, auf diesen Weg neue Verbraucherverträge generieren zu können? Warum sonst wäre die Dienstleistung ein Teil der ansonsten „rein informativen“ Website? Regelmäßig besteht hier ein untrennbarer Zusammenhang zwischen beiden Teilen der Website. Eigenständige Blog- oder News-Seiten würde ich als nicht vom BFSG erfasst ansehen. Newsletter dagegen schon, weil hierzu regelmäßig eine Anmeldung erforderlich ist. Diese dürfte einen eigenständigen Vertragsschluss über die Zusendung des Newsletters darstellen, unabhängig von anderen auf der Website erbrachten Dienstleistungen.
Die Frage, ob nur Teile oder die gesamte Website betroffen ist, beantwortet die Bundesfachstelle Barrierefreiheit öffnet sich in einem neuen Tab, Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See so:
„Die generellen Anforderungen an Dienstleistungen nach § 12 Nummer 3 BFSGV und die Vorgaben zur Überwachung von Dienstleistungen insbesondere nach Anlage 1 Nummer 2 BFSG legen nahe, dass tatsächlich die gesamte Website oder App entsprechende Anforderungen zu erfüllen hat.“
Es bleibt mir nur noch der Hinweis auf eine sehr wichtige Passage ganz zu Anfang des BFSG:
„Produkte und Dienstleistungen sind barrierefrei, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind.“ (§ 3 Absatz 1 BFSG)
Damit sind auf jeden Fall alle Widget oder Overlay-Lösungen aus dem Rennen, denn die verlangen im ersten Schritt, dass diese Werkzeuge konfiguriert werden müssen. Das ist nicht mehr die „allgemein üblichen Weise“.
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